Ende des Sommers.
Die Dämmerung setzt ein. Langsam dunkler werdendes Zartrosa mischt sich mit der kühlen Trübe von aufziehendem Nebel. Allmählich stimmen die Heuschrecken ihren Gesang zum Abend an. Zum Ende der Ranessar-Zeit ist es tagsüber noch angenehm warm, doch die Nacht kündigt bereits den beginnenden Herbst, die Tage der Tyrael, an. Der Nebel zieht sich dichter und umkreist das Lager, welches inmitten der Wildnis Dros Rocks liegt.
Zwei Gestalten entzünden ihre Fackeln. In der Dämmerung wirken ihre weißen Kampfröcke mit der orangen Zierde fast anmutig und edel. Sie halten Wache.
“Sieht ruhig aus.”, schätzt die Kultistin ein.
“Scheinbar.”, bestätigt der Kultist knapp. Wortkarg schauen sie umher und bewachen den Eingang zum Lager. Mehrere Zelte sind ordentlich in zwei ineinander gelegten Ringen aufgebaut. In der Mitte befindet sich eine Feuerstelle und drei weitere Kultisten sitzen dort. Sie reden leise miteinander. Unweit davon ist eine Plane aufgespannt. Darunter steht auf einem metallenen Gestell eine Schale. Vor der Schale kniet eine Kultistin mit verzierter roter Robe. Ihre Fingerspitzen bohren sich in den Boden und ihre Augen sind trüb wie in Trance. Tonlos murmelt sie beschwörerische Formeln. Sie harrt schon seit Tagen so aus.
In den letzten Wochen haben sich die Kultisten ganz auf ihre Aufgabe konzentriert. Nachdem sie im Vorjahr harte Rückschläge erleiden mussten, konnten sie nun ihr großes Ziel weiter verfolgen. Es würde nicht mehr lange dauern und sie hätten IHN befreit. Die Macht des Goldenen entfesselt und sich das genommen, was ihnen zustünde. Alles wird für die letzten Handgriffe und Rituale vorbereitet. Wenn sich ihnen jetzt nichts in den Weg stellt, ist ihr Werk bald vollendet.
Die Kultisten sind vorsichtig geworden. Haben ihre Späher verdoppelt und die Lagerplätze sorgfältig ausgesucht. Sie würden mehr Erfolg haben, wenn sie sich nun bedeckt hielten. Und bislang ist dieses Vorgehen von Erfolg gekrönt.
Unbemerkt fliegt ein Kauz über das Lager der Kultisten. Das Tier zieht einen halben Kreis über die Zelte und landet schließlich geräuschlos im Geäst eines nah stehenden Baumes.
Der Himmel nimmt nun eine violette Farbe an und das Licht der Sterne schimmert nur kurz am Firmament, denn fedrige Wolken ziehen auf und verdunkeln das Land. Der Nebel wird immer dichter, so dass Kleidung sofort feucht wird. Das Zirpen der Grashüpfer ebbt ab und verstummt schließlich. Ein starker Windzug fegt über die Kultisten hinweg, der die Fackeln wie auch das Lagerfeuer erlöschen lässt. Die Personen an der Feuerstelle fluchen, als ihnen die Wärme genommen wird. Verwundert blicken sich die Wachen um. Es tritt eine absolute Stille ein, die nur vom Rascheln der Kleidung der Kultisten durchbrochen wird.
“Was ist das?”, fragt eine Wache leise. Doch sie wird keine zufriedenstellende Antwort erhalten.
Lautlos öffnen sich kleinere Löcher in dem erdigen Boden. Selbst dort, wo der Grund fest getreten wurde, brechen mühelos Öffnungen hervor. In der Abwesenheit von Licht mit menschlichen Augen schwer zu erkennen, ist nun der gesamte Boden des Lagers mit kleinen Erdlöchern übersät.
Der Blick der Kultisten richtet sich nach unten. Was geschieht hier? An der Fußspitze eines Mannes drückt sich eine eiterfarbende Made von der Größe eines Daumens durch das Loch nach oben. Im Inneren des leicht durchscheinende Leibes pulsieren und winden sich die Eingeweide der Made. Mit dem kleinen dunklen Kopf schwenkt sie von links nach rechts, beugt sich dann weit nach oben und scheint den Kultisten anzublicken, der ungläubig auf das kleine Tierchen schaut. Einen Herzschlag später brechen aus jedem der unzähligen Löcher Maden, Würmer, Käfer, Fliegen und allerlei verschiedene Kriechinsekten hervor. Die Luft ist erfüllt von Rauschen und Brummen. Der Erdboden wimmelt nur so von Gewürm. Alles, was Flügel hat, erhebt sich langsam aus der sich windenden Masse.
Aus Ekel wird blanke Panik. Die Kultisten beginnen zu schreien und versuchen sich vor den Tieren des Untergrundes in Sicherheit zu bringen. Einige rennen halbnackt aus ihren Zelten und stolpern schlaftrunken in die Insektenschar. Die Ritualisitin erwacht aus ihrer Trance und versucht zu entkommen, doch kann sie ihre Finger nicht mehr aus der Erde ziehen. Die Fingerspitzen scheinen fest zu stecken. An ihren Armen kriechen die Maden und Würmer empor und bedecken den vor Furcht zitternden Menschenkörper vollständig. Der Angstschrei der Kultistin wird von einer Vielzahl von Kriechtieren erstickt, als diese sich den Weg durch ihren aufgerissenen Mund in ihre Kehle bahnen.
Die krabbelnde Masse kriecht an jeder Person empor, zieht sich hoch an Zeltplanen und -stangen, erstickt alles, was von Kultistenhand dort aufgestellt war. Fliegen und flugfähige Käfer mit ihren schimmernden Panzern umschwirren ihre Opfer und setzen sich auf freie Hautstellen. Das Brummen der Insekten wird immer lauter, bis es die entsetzlichen Schreie der Anhänger des Goldenen übertönt. Kultisten, übersäht mit Getier des Ekels, fallen zu Boden. Ein Entkommen ist hoffnungslos. Lebendiges Fleisch wird von abertausenden, wenn nicht Millionen winziger Zähne und Kauvorrichtungen abgenagt. Selbst vor Knorpel, Haar und Knochen macht das Getier der Erde keinen Halt. Qualvolles Sterben unter Unmengen von Würmern, Maden, Fliegen und Käfern. Alles wimmelt und windet sich. Der dunkle Schwarm verschluckt das Lager und alles was darin ist.
Die Schreie verstummen und so auch die Geräusche der Insekten. Alles, was aus den Löchern hervorgekommen ist, zieht sich dahin zurück. Es kehrt wieder Ruhe ein und die Sterne glitzern zwischen den sich bereits zurück ziehenden Wolken.
Das Lager der Kultisten ist vollkommen zerstört. Zerfetzte Zeltplanen und umgefallene Gestänge liegen verstreut. Übriggebliebene Sohlen von Schuhen und Rüstungsteile erinnern an Menschen, die hier verweilten. Selbst die aufgestellte magische Schale liegt zerbrochen am Boden. Es ist jedoch kein Erdloch mehr zu sehen.
Der Kauz betrachtete alles mit seinen starren gelben Augen. Ohne eine weitere Regung erhebt er sich von dem Ast und fliegt durch die ruhige Nacht davon.
Anfang Herbst.
“Wird es so reichen?”, fragt der Dunkelelf schnaufend, als er den letzten mittelgroßen Gesteinsbrocken auf den Haufen hievt. Er trägt einfache zerschlissene Kleidung, die viel von seiner vor Schweiß schwarz glänzenden Haut preisgibt. Die geschichteten Steinklumpen sind ordentlich von einer Felsspalte aufgetürmt.
“Ja.”, tönt kühl eine weibliche Stimme von der Seite. “Es ist gleich soweit.” Die Drow ist in elegante Roben gekleidet und trägt ihr silberweißes Haar kunstvoll geknotet. Das matte Mondlicht lässt die Verzierungen ihrer Kleidung kalt schimmern. In der linken Hand führt sie einen silbernen Dolch aus mit fein gearbeiteten Griffstück. Sie ist scheinbar eine Priesterin der dunklen Gottheit.
Die Mitte der Nacht ist gerade vorüber und der Höhlengang zwischen den Felsen im Süden des Landes ist nicht als solcher zu erkennen. Selbst bei Tageslicht wäre es Wanderern schwer gefallen, den Spalt als begehbar auszumachen. Nun ist dieser mit einem Haufen Geröll unpassierbar gemacht worden. Die unheilvolle Stille der Nacht wird plötzlich durchbrochen von einem Knistern im Unterholz, unweit der Felskante. Beide Drow drehen sich ruckartig in die Richtung, aus der die Geräusche stammen. Der männliche Dunkelelf senkt die Stimme und fragt: “Hohe Schwester, soll ich nachsehen?” Sie zögert. Aus nahegelegenen Baumwipfeln rascheln Flügel, unter einem Busch huscht ein Kleintier und aus der Richtung, wo das Unterholz Geräusche von sich gab, stimmt eine Steinkröte ihr Lied an. Die Drow erwidert: “Nein. Wir haben nicht viel Zeit. Unsere Oberin erwartet, dass alle Eingänge in dieser Nacht versiegelt werden. Was auch immer da ist, es kann warten.” Der Drow nickt und wendet seinen Blick ab.
“Der verabredete Zeitpunkt ist nah.”, verkündet die Priesterin mit einem prüfenden Blick zum Nachthimmel. Dann gebietet sie dem Mann: “Knie nieder.”
Ohne Widerworte setzt sich der Dunkelelf in Bewegung und nimmt seinen Platz kniend vor dem Steinhaufen ein. Beide Arme vor sich ausgestreckt.
“Bist du gewillt, dem Verlangen der Spinnengöttin zu folgen?”
“Ja.”
“Bist du erfreut, die Befehle unserer Mutter Oberin hingebungsvoll auszuführen?”
“Ja.”
“Bist du bereit, dein Leben für die Sicherheit deines Volkes zu opfern?”
“Ich bin bereit!”
Kaum ist das letzte Wort des Drow gesprochen, zückt sie auch schon den Silberdolch und scheidet ihm tief ins Fleisch. Je einen Schnitt lang und gerade an den Unterarmen. Dunkles Blut, welches man nur am Glanz des schimmernden Mondes von der schwarzen Haut unterscheiden kann, sickert aus den Wunden. Das Opfer spannt die Muskeln an und ballt die Hände zu Fäusten. Kein Laut des Schmerzes kommt dem Drow über die Lippen. Zufrieden ob der Disziplin zeichnet sich ein süffisantes Lächeln im Gesicht der Priesterin ab. Das Blut trieft über die Arme und erreicht den Boden, wo es beginnt eine Lache zu bilden. Beschwörerisch krümmt die Drow ihren Körper und verwebt düster klingende Worte mit den fremdartigen Bewegungen ihrer Hände.
“Loth, nimm dies’ Opfer an. ja'hai nindol or'shanse...“ Es folgen weitere Worte in der alten Sprache der Drow.
Während die Priesterin spricht, bewegt sie ihre Hände und formt Zeichen in der Luft. Es scheint, als würde der Blutfluss ihren Gesten folgen und ein durch die Dunkelheit schwer erkennbares Muster auf dem steinigen Boden zu bilden.
Die Drow spricht lauter und rings herum erscheinen violette und dunkelblau flackernde Flammen.
Das Spiegelbild Yddrasayes verschwindet hinter Wolken, sodass nur noch das Dunkelfeuer die Szene bescheint. Mit einer weiteren ruckartigen Bewegung schlitzt die Dunkelelfe die Kehle ihres Opfers auf und das restliche Blut im Körper des Drow spitzt gezielt auf den eingangsverschließenden Steinhaufen. Es bildet dort ein komplexes Symbol, bevor das Blut in die Felsbrocken sickert. Eine weitere schnelle Geste der Priesterin lässt die finsteren Flammen auf den knienden Drow zustürmen. Als das Dunkelfeuer begierig den Körper verzehrt, entgleitet dem Mann noch ein letzter kurzer Aufschrei. Dann versiegen die Flammen und die Priesterin lässt ihre Arme langsam sinken.
Mit blutigen Händen betrachtet die dunkle Wirkerin ihr Werk. Der Höhleneingang zum Unterreich ist verschwunden. Es ist nicht nur eine billige Illusion oder ein Brocken, der den Weg versperrt - es ist, als hätte dort nie ein Eingang existiert.
Nur noch ein paar Tropfen Blut, die außerhalb des Ritualbereichs gespritzt sind, verraten subtil, was hier geschehen ist. Sie holt ein Tuch hervor und wischt sich die Hände sauber. “Dieser Krieg
ist nicht der unsere.” Spricht sie ruhig, scheinbar zu sich selbst. “Das was kommt, wird sich gegenseitig vernichten. Sollen sie doch ihre Oberfläche zerstören. Wir werden danach kommen und uns
nehmen was übrig ist. Ihr Menschen solltet also nicht aufhören, uns zu fürchten.” Ohne auch nur den Blick in den hinter ihr liegenden Wald schweifen zu lassen, zischt sie leise aber hörbar mit
giftigem Unterton: “Nun geh und berichte!”
Sunna wagt kaum zu atmen. ‘Meint sie mich?’ - die Gedanken der Waldläuferin rasen. ‚Wen sollte sie sonst meinen? Bei den Ghaeni, sie könnte mich töten!‘ Der Fuß, auf dem sie regungslos verharrt hatte, ist schon seit einiger Zeit eingeschlafen und beginnt unangenehm zu schmerzen. Ihren Atmen lässt sie nur flach und vorsichtig gehen, sodass ihr langsam schwindelig wird. Besonders das Herz schlägt Sunna bis zum Hals und lässt sie vor Aufregung und Furcht zittern. Einzig ihre Stimme hatte sie kürzlich zur Imitation eines Krötenrufs verwendet. Sie darf sich nicht verraten.
‚Ob die Worte der Drow nur eine List sind, mich aus der Deckung zu locken?‘ Sunna gibt weiterhin keinen Mucks von sich. Es vergehen nur Augenblicke, bis die Priesterin der Drow sich mit einem unverständlichen Wort und einer zackigen Handgeste in dunklen Rauch verwandelt und verschwindet.
Sunna bleibt vorsichtig. Auch das könnte eine List sein. Sie weiß, wie einige Raubtiere ihre Beute belauern, bis sie schließlich zugreifen. Doch Sunna will keine Beute sein.
Sie wartet unter Schmerzen ob ihrer Position noch fast bis zum Morgengrauen ab. Dann eilt sie im Schutze des frühen Licht Rhadilds davon...