In einer Zeit, die heute schon vergessen ist, kämpften viele Elben an der Seite von Menschen, Zwergen und den anderen freien Völkern gegen das Dunkle, das sich im Süden der Mittellande erhoben hatte. Lange Zeit haben sie erbittert mit dem Dunkel gerungen, doch gesiegt haben sie nie und viele der Elben wurden in den Kriegen erschlagen. Von denjenigen, die der Krieg nicht dahingerafft hatte, zogen schließlich viele aus dem Süden fort – in der Hoffnung, Schwert und Bogen wieder gegen Flöte und Feder eintauschen zu können. Sie sehnten sich nach den Tagen zurück, in denen kein schwarzes Messer einem verträumten Blick hoch zu den Sternen ein jähes Erwachen bereitet hatte und auch sie selbst wollten nicht mehr töten – sie hatten es ohnehin immer gehasst.
Und so begann die erste Wanderung der Elben, die auch „Der Weg der Tränen“ genannt wird, denn in Trauer um diejenigen, die sie auf den Schlachtfeldern zurückgelassen hatten, machten sie sich auf eine ungewisse Reise in den Norden der Mittellande. Einige träumten davon, die Küste zu erreichen – auf der Suche nach einem anderen Elbenreich, von dem sie einmal gehört hatten. Immer wieder aber verließen Elben den Zug nach Norden und gingen ihre eigenen Wege. Nur wenig ist darüber heute noch bekannt und nichts wurde im Schatten jener Jahre aufgeschrieben, sodass die viele Zeitalter lang nur mündlich überlieferten Geschichten vieler Elbenvölker heute verschollen sind.
Die Reiche dieser Elbenvölker mögen noch bestehen, andere sind vielleicht
nicht mehr. Auch die Altvorderen wissen nicht um das Schicksal all jener, die die Küste nicht erreichten, doch erinnern sich die Ältesten daran, dass manche ihres Volkes dort geblieben waren, wo
ein klarer Quell aus der Erde gesprudelt oder das Sonnenlicht besonders schön und golden durch das Blätterdach der Bäume geschienen hatte. Vielleicht begann die Geschichte des Elbenvolkes, von
dem hier nach den Erzählungen der Alten berichtet wird, auf diese Weise. Vielleicht nahm die Legende, die hier erzählt werden soll, so ihren Anfang:
Die Elben sahen in dem zauberhaften Stück Wald, das ihr Zug nach Norden
durchquerte, eine Gabe ihres Gottes – Eru, der auch „Der Eine“ genannt wird – und so gaben sie ihm den Namen, den dieser Wald auch heute noch trägt: „annataur“ – was in der Sprache der Menschen
soviel wie „der geschenkte Wald“ bedeutet.
Es waren nicht viele Elben, die sich dort niederließen und ihre Zahl war auch später nie groß, denn der Landstrich um den Wald herum war karg und nur mit Mühe konnten die Elben ihm die nötige Nahrung abtrotzen und Kinder ernähren. Allerdings hatten die Elben aus ihrer Heimat und den Landen, die sie durchquert hatten, allerlei seltene Früchte mitgebracht, die sie in der Hoffnung, dass sie auch in fremder Erde gedeihen mögen, im Herbst in den Boden gruben. Doch als im nächsten Jahr die Bäche längst vom Eise befreit waren und die Natur in voller Blüte stand, warteten die Elben vergebens auf ein zartes Grün in ihrem Garten. In ihrer Furcht vor Hungersnot und in ihrer Verzweiflung wandten sich die Elben da an den Einen und erflehten seine Hilfe. Bis tief in die Nacht standen sie beisammen und sangen unter den Sternen, bis sich plötzlich einer der Sterne aus dem Himmel löste und langsam fern am Horizont in den Wald hinabsenkte. Die Elben nahmen dies für ein Zeichen und die ganze Nacht suchten sie nach dem Stern. Schließlich erblickte eine Kräuterfrau – Gwenelen war ihr Name – den Stern. Es war ein großes Stück Fels in einer Bodenmulde und es war noch etwas warm, als die Elbenfrau es berührte und ein silberner Schimmer ging von ihm aus.
Voller Bewunderung gewonnen die Elbenschmiede ein Erz aus dem Stern und fertigten einen Armreif daraus – den cam i arwen, der in der Menschensprache „Hand der Edelfrau“ heißt. Jene Kräuterfrau bestimmten die Elben später zur Trägerin des Armreifs, denn es sei Erus Wille gewesen, dass sie den Stern habe finden sollen. Als die Elben ihr aber den Reif anlegten, verlor Gwenelen das Bewusstsein und weder durch Schütteln noch lautes Rufen ließ sie sich wecken. Nach einer Weile aber schlug sie die Augen wieder auf und berichtete von einem Traum. Sie sagte, dass sich niemand mehr Sorgen machen müsse und mit dem Armreif an ihrem Handgelenk ging sie zu der Stelle, an der die Elben die Früchte gesetzt hatten und mit geschlossenen Augen und leiser Stimme begann sie einige Worte zu singen und mit jedem Wort, das sie sang, senkte sich ein angenehm kühler Nebel auf den Garten hinab und es begann dort warm und erdig und nach Blüten und süßen Früchten zu duften.
Als Gwenelen mit dem Sprechen aufgehört hatte, waren sie und alle Umstehenden von Nebel umschlossen und wo auch immer ihre Blicke den Nebel durchdrangen, sahen sie an prächtigen Bäumen, Büschen, Stauden und Sträuchern allerlei Früchte, Nüsse, Obst und auch Kräuter. An diesem Tag wurde Gwenelen von ihrem Volk zur Führerin und Hüterin des Armreifs und Gartens erwählt und viele andere Hüterinnen folgten ihr in den späteren Zeitaltern nach, in denen der Wind Flugsamen aus dem Garten auch über den umliegenden Wald verteilt hatte.
In den späteren Altern ließen sich auch die Menschen – zuerst scheu vor den Elben – am Saum des annataur nieder. Die Menschen begannen damit, Steinhäuser zu errichten und diese mit einem Wall zu befestigen und noch später entstand eine Burg inmitten einer kleinen Stadt am Rand des Waldes. Der ursprüngliche Name der Burg ist nirgendwo verzeichnet aber man vermutet, dass sie in glücklicheren Zeiten wohl einen schönen Namen gehabt hat, der aber vergessen ist, denn im Jahre 75 der Zeitrechnung nach dem Menschen Mithal aus Etraklin kroch ein dunkler Schatten in die Burg und nistete sich in dessen Turm ein und die Menschen sprachen fortan nur noch mit Schrecken von dem Namen der Feste und der war Dros Rock. Auf das Jahr 75 nach Mithal gehen auch die ersten schriftlich niedergelegten Berichte und Erzählungen über die Elben von Dros Rock – wie inzwischen auch der ganze Landstrich hieß – zurück.
Die Alten erzählen, die Elben hätten das Dunkel zuerst kommen sehen, wie es sich der Burg bemächtigt und seine Bewohner vertrieben hätte. Viele Elben hatten das Land inzwischen verlassen, war es doch der Schatten gewesen, der sie einst aus dem Süden der Mittellande vertrieben hatte. Nun waren sie erneut auf der Flucht und die meisten kamen niemals wieder. Die wenigen, die geblieben waren, begannen grimmig, wieder Schwerter zu schmieden, Bögen und Pfeile zu schneiden und sie schlossen sich einem Bündnis vieler Völker an, um die Schwärze aus der Burg zu treiben und sie wieder in ihrem alten Glanz erscheinen zu lassen. Doch die Sache stand schlecht, denn die Drow, die zu Tausenden in den Höhlen unter Dros Rock leben, hatten offenbar einen Pakt mit der bösen Macht in der Burg geschlossen und so verlor das Gute und viele wurden im Kampf erschlagen oder in die Wälder verstreut.
Nun entschlossen sich auch die letzten unter den Elben, den Annataur zu
verlassen. Bevor sie aber engültig schieden, begruben sie einen der ihren, den die Drow erschlagen hatten, unter den Bäumen des Elbengartens: Feagalendîn, den Diener der Hüterin. Kaum waren die
Elben im Schein ihrer Fackeln in der Nacht der verlorenen Schlacht nach dem Begräbnis abgezogen, plünderte ein Ork das Grab des Feagalendîn und nahm ihm einen tiefgrünen Stein an einem Lederband
ab, den ihm die Hüterin als Zeichen seiner Dienerschaft geschenkt hatte. So kam es, dass der Geist des Elben nicht zu Mandos Hallen der Toten ging, sondern ruhlos in den Wäldern um Dros Rock
herumirrte und sein Klagen ging fortwährend mit dem Wind durch den Wald und immer sprach der Wind davon, dass die Elben zurückkehren, das Dunkel endgültig besiegen und Feagalendîn seine Ruhe
wiedergeben würden. Der Ork indes fand sein Ende zwischen den Bäumen des annataur und niemand hat je erfahren, wer ihm dieses bereitet hatte.
Die Elben waren nun erneut auf Wanderschaft, was in der Geschichte ihres Volkes „Der dritte Zug – oder auch „Der Weg des Zornes“ genannt wurde, denn der cam i arwen war in den Kämpfen verloren gegangen und die Schönheit des Gartens war dahin und weder Frucht noch Kraut wuchsen dort. Die Elben aber gingen gerade einmal weit genug nach Norden, um in der Nähe des Landes in ihrem notdürftig aufgeschlagenen Lager auf Rache zu sinnen und im Jahre 76 n. M. kamen sie zurück und gemeinsam mit Menschen, Zwergen und den anderen freien Völkern kämpften die Elben erneut viele Tage um Dros Rock und den Elbengarten und wieder stand es nicht gut, denn die Drow hielten die Burg in großer Zahl besetzt. In dieser Zeit wurden der cam i arwen und der grüne Stein des Feagalendîn wiedergefunden. Ein nichtsahnender Händler hatte den Armreif feilgeboten und den grünen Stein fanden die Elben bei der Leiche des Orks, und sie gaben den Stein an Feagalendîn zurück, sodass der mahnende Geist seinen Frieden zwischen den Bäumen des Elbengartens wiederfinden konnte.
Der Zauber des cam i arwen wies den Elben schließlich den Weg durch die Nebel
und so wurde der Elbengarten in der Not wieder geöffnet und durch die Kraft seiner elbischen Früchte gelang es, die Drow zu überwinden. Seit diesen Tagen leben im annataur und in Dros Rock wieder
Elben, die unter dem wachsamen Auge ihrer Hüterin die Geheimnisse ihres Elbengartens wahren.
Anmerkung des Hofmagiers Aiden ui'Thallwyn im Jahre 94 n.M.
Wie die meisten Texte, welche sich mit historischen Ereignissen von vor dem Dunkelelfensturm befassen, so findet sich auch zu dieser Quelle kein sicherer Autor oder eine zeitliche Einordnung, wann der Text verfasst wurde.
In diesem Falle kann ich mich aber dafür verbürgen, ohne aus Gründen der Sicherheit Dros Rocks den Beweis anbringen zu können, dass ich diese Aufzeichnungen weitestgehend, aber vor allem im Kern als wahr belegt habe.